Bin bis Ende Januar dabei, für eine Umfrage in einem anderen Forum einige schon lange fällige 90er Filme nachzuholen. Bereits in den letzten paar Wochen nen Haufen toller Filme gesehen:
Love Letter (Shunji Iwai, 1995) – 4/5
Eine junge Frau schreibt einen Brief an die Adresse ihres verstorbenen Verlobten und erhält eine unerwartete Antwort zurück. Kaum zu glauben, dass ein Film über Trauer derart comfy sein kann, daher am besten für verschneite Wintertage aufbewahren.
Swallowtail Butterfly (Shunji Iwai, 1996) – 4.25/5
In typischer Iwai Manier traumähnlich und leicht chaotisch inszeniertes Drama über ein bunt gemischtes Ensemble von Migrant*innen in einem fiktiven Armenviertel in Japan. Die Geschichte folgt keinen konventionellen Regeln und schweift immer wieder in wilde Tangenten ab; man kriegt sogar das Gefühl, Iwai hätte über jede Figur hier einen eigenen Film in einem separaten Genre drehen können. Nicht als Kritikpunkt zu verstehen, ganz im Gegenteil: Iwai hat echte Sympathie für seine Charaktere und verleiht so jeder Figur ihre eigene Stimme; das Resultat ist ein einzigartiges soziales Mosaik, das die Summe seiner Einzelteile übertrifft.
Irma Vep (Olivier Assayas, 1996) – 4/5 (Streamt momentan bei MUBI)
Ein französischer Regisseur, der seine besten Jahre bereits hinter sich hat, engagiert Hongkong-Legende Maggie Cheung für sein fragliches Remake eines Stummfilm-Klassikers von Louis Feuillade. Nein, hier kritisiere ich nicht den Film selbst, sondern beschreibe seine Handlung. Assayas liefert hier eine metafiktive Satire, welche sich mit dem Status des französischen Kinos und dem ständigen Konflikt zwischen Kunst und Kommerz befasst. Wer gerne einen (fiktiven) Blick hinter die Kulissen einer low-budget Filmproduktion wirft oder auf Latex-Catsuits steht, wird sich hier wohl kaum langweilen. Und gespielt wird Maggie Cheung natürlich von niemand anderem als der echten Maggie Cheung höchstpersönlich, welche wie erwartet eine glänzende Darstellung bietet—im doppeldeutigen Sinn. lol
Rebels of the Neon God (Tsai Ming-liang, 1992) – 4.5/5
Urbanes Jugenddrama des taiwanesischen Meisters. Hat mich teilweise an eine realistischere Version von Akira erinnert. Von den vier Ming-liang Filmen, die ich gesehen habe, hat dieser weitaus am meisten gesprochene Linien. Was nicht heisst, dass dieser Film viel Dialog hat.
Vive L'Amour (Tsai Ming-liang, 1994) – 4/5
Drei verlassene Seelen teilen sich unbewusst ein Luxusapartment in Taiwan. Wohl einer der definitiven Filme über Einsamkeit und Ennui in einem modernen urbanen Milieu. Nichts für Leute mit kurzen Aufmerksamkeitsspannen; auch eine Inhaltswarnung zum Thema selbstverletzendes Verhalten soll hier gegeben sein.
The People Under the Stairs (Wes Craven, 1991) – 3.5/5
Eine unverblümt politisch radikale Horrorkomödie, die sich irgendwo zwischen Slapstick, Kindermärchen, Satire und Hood Film bewegt. Stilistisch eher campy als creepy, inhaltlich jedoch komplett abgefuckt (Inzest, Kindesmissbrauch, Kannibalismus, Kapitalismus), was für einen bizarren aber nicht uninteressanten Kontrast sorgt. Für Fans von Twin Peaks dürften vor allem die durchgedrehten Darstellungen von Everett McGill und Wendy Robie herausstechen: Hier zu sehen als ein rassistisch-dekadentes Vermieter-Paar, das praktisch ein gesamtes Viertel in LA als Privateigentum besitzt. So nach dem Ethos "subtext is for cowards" ist die zentrale Klassenkampf-Metapher hier sehr direkt gehalten und wird moderne Kinogänger an Jordan Peeles Us und Bong Joon-hos Parasite erinnern.
In the Mouth of Madness (John Carpenter, 1994) – 3.5/5
Hat mich nicht wirklich vom Hocker gerissen, aber trotzdem sehenswerter Lovecraft-Horror, wenn man in der Stimmung ist. Auch als Allegorie passt dieser Film ziemlich gut in unser von globalen Krisen und verschwörerischem Denken heimgesuchten Zeitalter: Sam Neill (Jurassic Park) spielt hier einen selbstgefälligen Skeptiker, der überall einen clever inszenierten Schwindel sehen will, auch wenn die Welt direkt vor seinen Augen den (mit unsäglichen kosmischen Ungetümen verseuchten) Bach runtergeht.
The Insider (Michael Mann, 1999) – 4/5
Al Pacino und Russell Crowe in einem auf wahren Begebenheiten basierenden Justiz-Thriller über einen Whistleblower der Tabakindustrie. Echte Medienfreiheit als Trugschluss in einem von mächtigen Privatkonzernen dominierten Kapitalismus dürfte als These wohl kaum an Aktualität verloren haben, zudem sind dank starker Darstellungen und Inszenierung die über zweieinhalb Stunden recht schnell vorbei.
Sonst noch gesehen:
Miami Vice (Michael Mann, 2006) – 4.25/5
Bei Release von Kritikern und Publikum zugleich verpönt, hat sich jedoch inzwischen in dedizierten Filmkreisen einen erheblichen Kultstatus erarbeitet—nicht zu Unrecht, würde ich behaupten. Wer sich auf Wikipedia eine Zusammenfassung durchliest, wird diesen Film wahrscheinlich als generisches Polizeiverfahren abstempeln, aber Filme sind natürlich weitaus mehr als Plot. Eine gewisse Bootszene in der Hälfte des Films hatte für mich sogar ohne Witz eine regelrechte poetische Anziehungskraft, die ich so in diesem Genre nie erwartet hätte. Der Soundtrack is ziemlich cheesy und könnte 2006 wohl kaum lauter schreien (so ist auch Numb/Encore einer der ersten Songs, die es zu hören gibt), fand ich aber eher amüsant als ärgerlich. Mit Colin Farrell, Jamie Foxx und (hell yeah) Gong Li. Farrells Rolle erinnert auch ein wenig an seinen Charakter in Terrence Malicks The New World (2005), in der Tat scheinen sich die beiden Filme trotz aller Unterschiede in Setting und Machart auf abstrakter, thematischer Ebene irgendwie schön zu komplementieren.
No Time to Die (Cary Joji Fukunaga, 2021) – 1.5/5
163 Minuten Film aber dann nur ~10 Minuten Ana de Armas einsetzten? Kriminell. Und obwohl ich insgesamt Craig als gelungenen Bond empfand (auch wenn in seiner Ära nur zwei respektable Filme dabei rauskamen), hat mich das Ende trotz allem Pathos ziemlich kaltgelassen. Ich mache vor allem das Drehbuch verantwortlich, zudem fand ich Rami Maleks Schurkenrolle ziemlich flach. Die meisten Leute scheint das Ende jedoch bewegt zu haben, daher wohl ein eher unpopuläres Urteil meinerseits.