Hab diesen Post ursprünglich für einen Thread verfasst, in dem nach Lieblingscharakteren gefragt wurde; allerdings wurde der Post etwas zu ausführlich, daher hab ich ihn mal hierhin verschoben. Ich könnte noch viel, viel mehr über diese Serie schreiben, aber fürs Erste hier nur mal einen Überblick über die Hauptfigur dieser Serie: Phosphophyllite!
Wo starte ich am besten? Schon rein konzeptionell ist "Phos" einer der einzigartigsten Charaktere, die ich kenne. Wie der Grossteil des restlichen Casts ist Phos nämlich ein anthropomorpher… Edelstein. Jep, mit Animation ist fast alles möglich! Allerdings ist das nicht nur ein optisches Gimmick, sondern hat auf mehreren Ebenen tiefgreifende Konsequenzen für die Charakterisierung.
Zuerst aber eine kurze Synopse: Zusammen mit ein paar Dutzend weiteren sogenannten Juwelen lebt Phos auf einer (umwerfend!) einsamen Insel in einer post-post-apokalyptischen Welt—d.h. die Apokalypse ist bereits so lange her, dass jegliche Erinnerungen an die Menschheit scheinbar schon längstens in Vergessenheit geraten sind. Die ansonsten friedlichen Tage der Inselbewohner werden jedoch regelmässigen unterbrochen von Übergriffen des mysteriösen "Mondvolkes", welche auf die Juwelen Jagd machen, um sie zu Schmuck zu verarbeiten. Dementsprechend besteht ein grosser Teil des Juwelen-Alltags aus Patrouillen und gelegentlichen Gefechten im Rahmen eines Konfliktes, der sich schon seit Jahrtausenden in einer Pattsituation befindet. (NieR: Automata—ebenfalls 2017 erschienen—lässt grüssen!)
Besonders interessant an den Juwelen ist, dass sie mit Körpern versehen sind, die auf den physikalischen Eigenschaften der jeweiligen Mineralien basieren. Insbesondere sind Grössen wie Tenazität und Mohshärte ausschlaggebend, welche charakterisieren, wie leicht ein Feststoff zerbrochen oder zerkratzt werden kann. Allerdings befindet sich Phos ziemlich weit unteren in dieser Hierarchie der physikalischen Widerstandsfähigkeit. Einerseits zieht ein solches Los oft lebensgefährliche Konsequenzen mit sich—zwar können die Juwelen nicht altern und daher über die Jahrtausende bestehen, sterblich sind sie dennoch, vorausgesetzt, sie verlieren zu viele ihrer körperlichen Bestandteile. Mit einer Mohshärte von mickrigen 3.5 ist daher für Phos bereits jeglicher physischer Kontakt mit anderen Juwelen riskant. Andererseits schränkt ein solch brüchiger Körper auch stark ein, welche Rollen Phos in der Juwelen-Gemeinschaft übernehmen kann. Am liebsten würde Phos Seite an Seite mit den anderen Juwelen ins Gefecht ziehen, was Phos jedoch ausdrücklich verboten wird. Zudem sind die ohnehin schon spärlichen Möglichkeiten für eine spezialisierte Beschäftigung bereits alle besetzt, und so wird Phos zu Beginn der Serie erneut ein (in David Grabers Terminologie) Bullshit Job aufgehängt: eine Naturalenzyklopädie zu verfassen auf einer von Flora und Fauna nur spärlich bewohnten Insel.
Trotz dieser körperlichen Nachteile mangelt es Phos jedoch keineswegs and Mumm und Elan: in der Tat hat Phos sogar etwas einen Ruf als unruhestiftendes Juwel erworben (in einem amüsant-liebenswerten Sinn). An diese mit Unschuld und Naivität strotzende Version von Phos sollte man sich jedoch nicht zu stark gewöhnen, denn über den Verlauf der 12 Episoden macht Phos eine Reihe an wesentlichen Erfahrungen und Erkenntnissen durch, welche sowohl das Selbstbild als auch das Weltverständnis des Charakters aufs tiefste erschüttern. Diese Entwicklungen sind auch oftmals mit einschneidenden körperlichen Änderungen verbunden, was nicht nur reich an Metaphorik ist, sondern auch mal etwas in Richtung Body Horror gehen kann. Auf jeden Fall weist Phos trotz der bescheidenen single-cour Laufzeit des Animes einen erstaunlich bedeutsamen und konsequent entwickelten Charakterbogen auf, der mich auch auf emotionaler Ebene wirklich sehr mitgenommen hat. Aber das Krasseste an dieser Sache ist, dass der Anime nur den Anfang von Phos’ Geschichte erzählt—der Manga geht mit diesem Charakterbogen noch so unglaublich viel weiter, dass ich beim Lesen fast den verdammten Verstand verloren habe!!! extrem mitfiebern musste. Leider muss jedoch erwähnt werden, dass der Manga seit über einem Jahr pausiert ist, und zwar in einem der brutalsten Cliffhanger diesseits des Sonnensystems. Phos’ Geschichte fehlt es also immer noch an einem Schlusspunkt, was (wie in einem anderen Post bereits erwähnt) die Community langsam in den Wahnsinn treibt. Was jedoch bei weitem nicht heisst, diese Geschichte würde sich nicht lohnen, denn auch wenn das Worst-Case-Szenario eintreffen und kein weiteres Kapitel veröffentlicht werden sollte, wäre Houseki no Kuni auch in der bestehenden Form einer meiner absoluten Favoriten, sowohl in Anime- als auch Mangaform!
Zeit für einen Themenwechsel: Aufmerksame Leser*innen werden vielleicht bemerkt haben, dass ich keine geschlechtsbezogenen Pronomen für Phos verwende, denn auch in dieser Hinsicht sticht diese Serie einzigartig hervor: Praktisch der gesamte Cast (mit einer potenziellen Ausnahme) ist nicht-binär, denn warum sollten sich zigtausend Jahre nach dem Aussterben der Menschheit noch irgendwer für ein solch willkürliches Konstrukt wie Gender interessieren? Um ein solches Szenario in unseren bestehenden, imperfekten Sprachen erfolgreich umzusetzen, gibt es verschiedene Lösungsansätze: Im Japanischen Dub wird zum Beispiel das eher maskuline Personalpronomen "boku" mit grösstenteils femininen Stimmen kombiniert, um einen ambivalenten Geschlechtseindruck zu schaffen. Im deutschen Manga wird das Neopronomen "xier" verwendet, am elegantesten finde ich jedoch die englische Lösung mit dem singulären "they". Es soll jedoch gesagt werden, dass die Verwendung von nicht-menschlichen Charakteren als Form von nicht-binärer Repräsentation ein nuanciertes Thema ist, was auch dieser Serie sowohl bedeutungsvolles Lob als auch konstruktive Kritik eingebracht hat. Ich selbst bin ebenfalls nicht-binär und wie viele Gleichgesinnte (die Serie ist sehr populär in LGBTQ+ Kreisen) höchst begeistert von diesem Cast; gleichzeitig schätzte ich auch sehr, dass diese Serie einen Anime/Manga-spezifischen Raum für konstruktive Auseinandersetzungen mit diesem Thema bietet.
Zu guter Letzt soll als Sahnehäubchen auch noch erwähnt werden, dass Phosphophyllite von niemand anderem als der enorm talentierten Tomoyo Kurosawa gesprochen wird, welche für diese Rolle sogar mit dem Seiyu Award 2018 für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde (zusammen mit ihrer ebenfalls grossartigen Rolle als Kumiko in Hibike! Euphonium). Wirklich einer meiner absoluten Lieblingsperformances in diesem Medium, ein ganz besonderer Moment hat mir regelrecht den Atem verschlagen (in Zusammenhang mit einem speziellen ED, welches im Anime nur einmal verwendet wird).