Danke für den Thread, es wurden schon ein paar wichtige Themen aufgegriffen. Manipulation durch die Werbeindustrie ist ein besonders wichtiger Punkt, da sie nicht nur für unser seelisches Wohl schädlich ist, sondern auch ein wesentlicher Treiber der gegenwärtigen Existenzkrisen im Bereich Umwelt und Klima. Für ein Wirtschaftssystem, welches strukturell von exponentiell steigendem Ressourcenverbrauch abhängig ist, braucht es eben eine dementsprechend unersättliche Konsumgesellschaft. Für weitere Lektüre zu diesem Thema empfehle ich das Werk des Ökonomen und Anthropologen Jason Hickel, welcher die Eindämmung der Werbeindustrie als einen (von vielen) notwendigen Schritten in Richtung nachhaltige Existenzgrundlage auf diesem Planeten sieht.
Vor allem möchte ich jedoch einen anderen Punkt von Joshi noch etwas ergänzen: Medien mit schockierenden Bildern wie im erwähnten Dokumentarfilm dienen in der Tat häufig als Instrumente der Manipulation, das ist nicht abzustreiten. Allerdings ist die Kehrseite solcher exzessiver Bilder auch, dass sie leichter als Manipulation entlarvt werden können. Schockwert entsteht durch radikale Abweichung vom Alltäglichen, aber womöglich noch heimtückischer—weil viel subtiler in ihrer Manipulationskraft—ist genau das Letztere: nämlich das Alltägliche.
Scheinbar nüchterne Darstellungen des Alltäglichen mögen neutral und unverfänglich wirken, aber hinter jeder solchen Darstellung steckt immer eine ganze Welt an (oftmals unbewussten und fast immer unausgesprochenen) Annahmen und ideologischen Grundsätzen, welche bestimmen, wie das Alltägliche auszusehen hat. Durch stetige Wiederholung in den Medien und der breiteren Gesellschaft bekommt so das Alltägliche einen normativen Charakter, d.h. der Status quo wird mit einem erhaltenswerten "Normalzustand" verwechselt, im schlimmsten Fall sogar zu einer "natürlichen Ordnung" deklariert.
Dabei geht jedoch vergessen, dass viele Umstände in unserer Gesellschaft komplett willkürlich und historisch kontingent sind. Was vor 100 Jahren noch zum "gesunden Menschenverstand" gehörte, wird heute zu Recht als ignorant, rassistisch, sexistisch, etc. verurteilt, und in weiteren 100 Jahren wird es vielen unserer gegenwärtigen Vorstellungen des Selbstverständlichen wohl ähnlich ergehen. Ich denke da vor allem an den Konsum von Tierprodukten (zumindest die Intensivtierhaltung wird bis dahin hoffentlich als der Vergangenheit gehörender Wahnwitz angesehen), aber auch in vielen weiteren Bereichen wie Eigentum, Arbeit, Infrastruktur, Wachstum, etc. werden wir um ein fundamentales Umdenken nicht herumkommen, falls wir die enormen Krisen dieses Jahrhunderts bewältigen wollen.
In Bezug auf Unterhaltungsmedien ist die manipulative Kraft des Alltäglichen auch der Grund, warum es so etwas wie ein "apolitisches" Werk nicht gibt. Wie George Orwell in einem Essay über Charles Dickens schreibt: “But every writer, especially every novelist, has a 'message', whether he admits it or not, and the minutest details of his work are influenced by it. All art is propaganda.” Wobei bemerkt werden muss, dass der Begriff "Propaganda" hier nicht in einem modernen, abwertenden Sinn gemeint ist: Ursprünglich war der Begriff neutral aufgefasst und bezeichnete jegliche Form der Kommunikation, die eine gewisse Ansicht vertritt und davon überzeugen möchte. Der Anime-Kolumnist Nick Creamer hat zu diesem Thema ebenfalls ein sehr empfehlenswertes und zugängliches Essay verfasst, einen der entscheidendsten Sätze zitiere ich mal hier (frei übersetzt): “Dieses Werk ist nicht politisch” bedeutet in Wirklichkeit nichts anderes als "ich teile die Politik dieses Werks so genau, dass sie für mich unsichtbar ist." (No Politics: Media and Identity).
Beim Begriff "politischer Anime" denkt man vielleicht an Titel wie Legend of the Galactic Heroes oder Code Geass, allerdings sind das lediglich Serien, die ihre Politik etwas stärker ins narrative Rampenlicht rücken. Schlussendlich vertritt aber jedes Werk eine politische Perspektive, sei es nun (im interessanteren Fall) durch aktive Kritik an der dominanten Ideologie und/oder die Erkundung von alternativen Möglichkeiten, oder (im banaleren Fall) schlichtweg durch passive Adoption und implizite Aufrechterhaltung des Status quo. (Ja, auch K-On! ist ein politisches Werk, und zwar ein recht interessantes obendrein. 😁)
Ich muss jedoch klarstellen, dass ich ganz und gar nicht unterstellen will, dass Werke ohne explizit emanzipatorische Ambitionen alle automatisch wertlos oder gar schädlich sind. Ebenfalls selbstverständlich ist, dass es zu jedem Werk eine subjektive, interpretative Komponente gibt. Der springende Punkt ist lediglich, dass wir die politische (oder im Sinne dieses Threads: manipulative) Komponente unseres Medienkonsums nicht aus den Augen verlieren dürfen. Es gilt also eine kritische und differenzierte Auseinandersetzung mit Medien zu kultivieren, insbesondere auch für Werke, die uns nahestehen, da (wie schon von Joshi angesprochen) unsere Leidenschaft viel Platz für blinde Flecken bietet.
Um nur ein Beispiel aus einem meiner eigenen Lieblingsanimes zu geben: Die Iyashikei/Slice-of-Life-Serie Aria spielt in einer utopischen Zukunft und könnte sich daher als Fallstudie zu den in diesem Post angesprochenen Themen kaum besser eignen. Wie stellt sich Autorin Kozue Amano den Alltag in einer idealisierten Gesellschaft vor? Was wird als selbstverständlich angenommen? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zu unserem gegenwärtigen Alltag? In ihrer Kernphilosophie finde ich die Serie mehr als gelungen und mit durchaus subversivem Potenzial ausgestattet, in den Details gibt es jedoch immer Punkte zu bemängeln. Ein besonders anschauliches Beispiel ist die Tatsache, dass Fleischkonsum immer noch auf dem täglichen Speiseplan der Charaktere steht. Mit Akari Mizunashi hat diese Serie eine der liebenswürdigsten, optimistischsten, warmherzigsten Charaktere aller Zeiten zur Protagonistin erkoren—würde eine solche Person wirklich mit der Massentötung von Tieren für kulinarische Genusszwecke einverstanden sein? Dieser Widerspruch scheint jedoch nicht einmal annähernd auf Amanos Horizont zu sein, was ich natürlich nicht auf individuelle moralische Verwerflichkeit zurückführen will, sondern als Illustration dienen soll, wie tief verwurzelt und allgegenwärtig die Annahme der Selbstverständlichkeit von Fleischkonsum wirklich ist. Ähnliche Beispiele gibt es in dieser Serie wie auch jedem anderen Werk zuhauf: Jedes Mal, wenn ein Eigentumsverhältnis, ein Arbeitsverhältnis, oder allgemein ein Machtverhältnis aus unserem Alltag unkritisch ins fiktive Adoptiert wird, dient das als (bewusste oder unbewusste) Affirmation einer gewissen Ideologie und hat somit (im Sinne dieses Threads) manipulative Züge.
Weitere Bemerkungen zu Aria habe ich in meinem (englischsprachigen) Review verfasst, vielleicht werde ich es später einmal im Thread für diese Serie posten. Und zu den Themen Manipulation und Propaganda kann man natürlich noch unendlich viel mehr schreiben; ich habe mich aber mal im Rahmen dieses Forums auf Unterhaltungsmedien/Anime beschränkt.