Ein Kommentar aus einem anderen Thread hat mich zu diesem Post inspiriert:
Torn3ko Animes sind das einzige Medium, in welchem man es (grösstenteils) geschafft hat, die geschriebene Vorlage direkt umzusetzen. Filme und Serien sind halt wirtschaftlich oder politisch/ideologisch von Interesse und ignorieren dann das Originalkonzept.
Nun, so wie ich das sehe, ist Anime nicht minder wirtschaftlichen Zwängen und ideologischen Annahmen unterworfen, im Grunde genommen sogar mehr als Film. Film ist ein deutlich reiferes, global produziertes Medium und hat daher viele nationale Branchen und auch eine grössere Vielzahl an kleineren Independent-Produktionen, welche Nischen für Filmschaffende jenseits des Mainstreams bieten. Zudem führt allein die Tatsache, dass Anime definitionsgemäss aus einem einzigen Land kommt, zu einem vergleichsweise begrenzten ideologischen Spielraum für ein Grossteil der Produktionen (wobei es natürlich immer einzelne Pioniere, Rebellen und Exzentriker wie Kunihiko Ikuhara gibt).
Nun zum Thema Adaption: Ich sehe die wirtschaftlichen Zwänge der Anime-Industrie sogar als einer von zwei Hauptgründen, weshalb sich Animes oftmals strikt an die Originalvorlage halten. Bekanntlich befindet sich die Anime-Branche trotz Rekordwachstum schon länger in einer untragbaren Schaffenskrise: Für das kreative Personal sind Burnout, miserable Arbeitsbedingungen und tiefe Honorare die Norm, während die steigenden Profite von top-down betriebenen Produktionskomitees eingeheimst werden. Dazu berichtet der mit viel Insiderwissen ausgestattete Sakuga Blog schon seit Jahren, zum Beispiel in diesem jüngsten Artikel über die Layout-Krise, aber auch Massenmedien wie Vox und die New York Times haben schon über die prekären Verhältnisse der Branche berichtet.
Es versteht sich von selbst, dass ein derartig ausbeuterisches Umfeld keine gute Voraussetzung für das kreative Aufblühen eines Mediums ist. Daher wird oftmals auf die generell einfachere und sichere Option zurückgegriffen: Originalserien sind riskant, lieber also eine Manga-Serie mit bereits etablierter Fanbase adaptieren, dazu möglichst originaltreu, um keinen Fan-Shitstorm auszulösen. Kein Wunder, beklagen sich Industrie-Veteranen wie Masayuki Miyaji über die zunehmende Eingrenzung der kreativen Rolle von Anime-Regisseuren, welchen es oftmals sogar untersagt ist, die ideologischen Grundsätze ihres Ausgangsmaterials zu hinterfragen. Die Kunst der Adaption wird dabei zu einem rein technischen Problem reduziert, eine Vorlage möglichst ökonomisch in animierter Form zu replizieren.
Der andere wichtige Grund, warum sich Animes oftmals sehr nahe an das Original halten, liegt schlichtweg darin, dass sich Anime und Manga visuell und strukturell sehr ähnlich sind: Oftmals müssen Charakterdesigns nur leicht angepasst werden, viele Manga-Panels können als Blaupause für das Storyboard verwendet werden, und der Plot ist durch die Kapitel bereits grob in Episoden eingeteilt.
Hingegen sind Literatur und Film extrem unterschiedliche Medien, weshalb Filmschaffende bei weitem mehr eigene Interpretationsarbeit leisten müssen, um ein Buch nicht nur storytechnisch zu adaptieren, sondern auch erfolgreich zu visualisieren. Viele Bücher sind ohnehin nur schwer verfilmbar, was nichts mit wirtschaftlichen und ideologischen Zwängen zu tun hat. Oftmals weisen die besten Verfilmungen daher eine eher lose Beziehung zu ihrer Vorlage auf, zum Beispiel Burning von Lee Chang-dong, basierend auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Obwohl Murakami einer der erfolgreichsten japanischen Schriftsteller ist, wagt sich die Filmindustrie kaum an sein Material ran—zu sehr liegt der Reiz seiner Romane in den verzwickten inneren Welten seiner Protagonisten, wie auch in Murakamis Gabe, mittels einfach-eleganter Prosa das Aussergewöhnliche im Alltäglichen zu finden. Chang-dong findet hierbei einen Ausweg, indem er eine Kurzgeschichte als Grundgerüst nimmt und den Rest selbst konkretisiert.
Abgesehen von der Machbarkeit ist es ohnehin eine ganz andere Frage, ob eine strikte 1:1 Adaption zwischen verschiedenen Medien überhaupt wünschenswert ist—eine Frage, die ich tendenziell mit Nein beantworte. Natürlich kommt es auch auf das Werk drauf an: Falls das Original bereits inhaltlich sehr stark ist, kann auch ich an einer originaltreuen Adaption interessiert sein, um dieselbe Geschichte noch einmal von einem (zumindest ästhetisch) neuen Blickwinkel zu sehen (Houseki no Kuni). Es gibt aber auch Beispiele wie K-On!, dessen mittelmässige Vorlage nicht nur durch geschickte Inszenierung massiv aufgewertet wird, sondern auch durch überwiegend neues Material, welches nicht im ursprünglichen 4-koma zu finden ist.
Generell teile ich die Ansicht, dass Adaptionen die Freiheit haben sollen, sich intelligent mit dem Originaltext auseinanderzusetzen und ihn gegebenenfalls auch zu hinterfragen. So untergräbt beispielsweise Regisseur Paul Verhoeven mit seiner Verfilmung von Starship Troopers gezielt den Jingoismus von Heinleins Romanvorlage. Auch wenn anfänglich der Film noch von Kritikern, denen die Satire über den Kopf geflogen ist, verpönt wurde, konnte der Film dennoch Kultstatus erreichen und sich inzwischen auch kritisch rehabilitieren.
Des Weiteren kann eine Adaption Gelegenheit bieten, einen etablierten Text zu modernisieren und in einen neuen gesellschaftlichen Kontext zu setzen. Zum Beispiel hat Vrai Kaiser in dieser Hinsicht zu Masaaki Yuasas Adaption des Manga-Klassikers Devilman Crybaby einen lesenswerten Artikel geschrieben.
So, genug von mir: Wie steht ihr zum Thema Adaption? Sonstige Bemerkungen zum Stand der Branche? Einwände zu meinem Post? Ich bin bei weitem kein Experte, nur ein interessierter Anime-Enthusiast, der dieses wunderbare Medium trotz aller Probleme in einem gesunden Zustand sehen möchte!