Hab diesen wunderbaren Film dieses Wochenende erneut gesehen und eine Rezension dazu geschrieben. Würde ich eigentlich gerne öfter mal machen (auch um meine Schreibfähigkeiten zu verbessern), ist aber leider etwas zeitintensiv... Auf jeden Fall: Feedback ist willkommen!
Als Spin-off Geschichte stellt Liz to Aoi Tori (Liz and the Blue Bird) zwei Nebenfiguren der High-School-Animeserie Hibike! Euphonium in den Vordergrund: die stark introvertierte Mizore und ihre lebhafte beste Freundin Nozomi. Beide sind Mitglieder des ambitionierten Blasorchesters ihrer Oberschule und verbringen daher viel Zeit in Übungsessionen während den Sommerferien. Die gesamte Haupthandlung findet bewusst in einem einzigen Schulgebäude statt und dreht sich primär um die ambivalente Beziehung der beiden Hauptcharaktere, deren Zukunft aufgrund des bevorstehenden Schulabschlusses noch offen steht. Parallel dazu erzählt der Film die namensgebende Märchengeschichte von Liz und dem blauen Vogel, welche in der Haupthandlung als Kinderbuch vorkommt und von Nozomi und Mizore individuell gelesen und interpretiert wird. Das farbenfroh animierte Märchen reflektiert die Charakterdynamik der beiden Protagonistinnen auf überraschende und doppeldeutige Weise und stellt stilistisch einen starken Kontrast zu den naturalistischen Tendenzen des restlichen Films dar.
Des Weiteren etabliert der Film ein eindeutig romantisches Interesse von Seiten Mizores, welches über Subtext hinausgeht und eine rein platonische Deutung des Texts ausschliesst. Trotz des optimistischen Grundtons werden die Schwierigkeiten für junge Menschen beim Navigieren solcher Gefühlswelten nicht unter den Teppich gekehrt, was jedoch auf eher subtile und implizite Weise geschieht. Die Tatsache, dass fast der gesamte Film bewusst innerhalb desselben Schulgebäudes stattfindet, kann daher als Metapher verstanden werden: Der im Käfig eingesperrte Vogel ist ein weitverbreitetes literarisches Motiv und findet auch hier seine Verwendung. So kann die Schule—im breiteren Sinn also ein öffentlicher Raum, in dem gesellschaftliche Normen und Erwartungen hohen Stellenwert besitzen und der prüfende Blick Gleichaltriger unausweichlich ist—für nicht-konforme Menschen ebenfalls eine repressive Dimension annehmen. Wie der Film das Dilemma des blauen Vogels auflöst, wird in einem lakonischen Eintrag auf Letterboxd sehr schön auf den Punkt gebracht: Love is what cages us, and love is what sets us free.
Verglichen mit Koe no Katachi (A Silent Voice), dem Vorgängerwerk der Regisseurin Naoko Yamada, in welchem sie eine 64 Kapitel starke Mangaserie gerade noch in einen zweistündigen Spielfilm unterzubringen vermag, ist Liz storytechnisch ein deutlich bescheideneres und fokussierteres Werk. An Ausdruckskraft und Resonanz wird dabei jedoch keineswegs eingebüsst: Bei einem Film von solch unglaublicher Wärme, Schönheit und Feingefühl muss ich schon etwas aufpassen, dass mir während der Laufzeit mein Herz nicht buchstäblich dahinschmilzt. Auf optisch Ebene ist der Film so perfekt, wie es ein Film nur sein kann: Die Linienführung ist an Sauberkeit, die Farbpalette an Stimmigkeit, die Bildkomposition an Kunstfertigkeit kaum zu übertreffen. Die kontrastarme und primär auf hellen Blau- und Grüntönen basierende Farbpalette wirkt harmonisch und zurückhaltend, passend zum ruhigen und introspektiven Erzählton der Geschichte. Die Märchenszenen hingegen sind per Aquarell gemalt und verlieren etwas an Detail und Realismus; auch die Farbpalette ist vielfältiger und stärker saturiert. Dies erzielt einen fantastischen Effekt und erinnert teilweise sogar an einen Traum, in dem Emotionen stärker wahrgenommen werden und Hintergrunddetails an Schärfe verlieren.
Was Naoko Yamada betrifft: Die bei Veröffentlichung des Films gerade mal 33 Jahre junge Regisseurin gilt schon seit längerem als Nachwuchstalent und hat über ihre Jahre bei Kyoto Animation einen sehr ausgeprägten inszenatorischen Stil entwickelt. So ist ihr fotografisches Gespür dem Film allgegenwärtig anzuerkennen, zum Beispiel an der einfallsreichen Bildkomposition und dem intensiven Einsatz fotografischer Techniken wie der Schärfentiefe, welche in digitalen Animationsprodukten entsprechend emuliert werden muss. Ein weiteres Merkmal ist Yamadas hohe Wertschätzung der Körpersprache: So verwendet sie häufig Nahaufnahmen von einzelnen Körperteilen wie Händen oder Füssen, um die Emotionen und Haltungen ihrer Charaktere widerzuspiegeln. Zudem ist Yamada eine waschechte Filmliebhaberin, zu deren Einflüssen eindrückliche Namen wie Chantal Akerman, Edward Yang und Robert Bresson zählen. Matthew Li zieht in seinem Review gar einen direkten Vergleich zu Akermans Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles, was ich persönlich vielleicht etwas übertrieben finde, aber die Feststellung, dass Yamada eine höchst kunstvolle und filmische Herangehensweise aufweist, ist ohne Zweifel angemessen. Trotz all ihrer Stärken muss Yamada allerdings manchmal etwas aufpassen, dass ihre technischen Effekte nicht Überhand gewinnen und ihre Inszenierung in Schlüsselszenen nicht ins Sentimentale abrutscht—eine Gratwanderung, welche ihr hier deutlich besser gelingt als in ihrem Vorgängerwerk Koe no Katachi.
Des Weiteren beruht das Erfolgsrezept dieses Films auch auf einem einzigartigen, experimentierfreudigen Produktionsprozess. So wurde Kensuke Ushio, einer der talentiertesten jungen Komponisten der Anime-Industrie, bereits vor Anfertigung des Storyboards in den Produktionsprozess eingebunden, um mit Yamada die Leitthemen des Films und den Rhythmus jeder einzelnen Szene zu besprechen. Dementsprechend sind Setting, Schnitt, Animation, Thematik, Tongestaltung und musikalische Untermalung einzigartig präzise und wechselwirkend aufeinander abgestimmt. Diese Synergie ist in der fast wortlosen Eröffnungsszene der Haupthandlung besonders schön zu erkennen, welche durch ihre explizit rhythmische Dynamik hervorsticht: Die Schritte der beiden Hauptfiguren vermischen sich organisch mit der Filmmusik, wobei die unterschiedlichen Tempos die asymmetrische Beziehung der Charaktere symbolisieren. Und wer ganz genau aufpasst, wird merken, dass sich in einer vergleichbaren Szene am Ende des Films die Geschwindigkeiten angepasst haben—es ist schwer in Worte zu fassen, wie sehr solche Details mein Herz erwärmen!
Ebenfalls mit Liebe zum Detail versehen ist die dezente Animationsarbeit, welche sich Kyoto Animation entsprechend auf höchstem Niveau bewegt, ohne dabei viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In wortlosen Szenen kommuniziert das Charakterspiel mit mehr Finesse als es viele andere Animes in ganzen Drehbüchern vermögen—eine Glanzleistung, welche wir unter anderem dem Chefanimator und Charakterdesigner Futoshi Nishiya zu verdanken haben. Schweren Herzens soll auch erwähnt sein, dass 2019 Nishiya zusammen mit 35 weiteren Opfern im tragischen Brandanschlag auf das viel geliebte Studio sein Leben lassen musste. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass dieser Anschlag mich in Schwermut versetzt; gleichzeitig bin ich jedoch auch unendlich dankbar, dass sich Naoko Yamada an jenem schrecklichen Tag nicht zur falschen Zeit am falschen Ort befand und daher unsere Welt bis heute mit ihren kreativen Talenten bereichern kann. Was KyoAni betrifft, dürfte Liz to Aoi Tori dennoch Yamadas Schwanenlied darstellen, da sie das Studio, dem sie bis dahin ihre gesamte Karriere gewidmet hatte, zwei Jahre später verliess.
Für mich steht jedoch fest, dass die Yamada-Ära bei KyoAni auf einem Höhepunkt endete, denn Liz to Aoi Tori ist ein bescheidenes und daher umso eindrucksvolleres Meisterwerk. Ob es jedoch einem breiten Publikum zugänglich ist, sei mal dahingestellt. Spektakel, Pathos, Spannung und Comic Relief sind diesem Film eher Fremdwörter, weshalb es auch nicht überrascht, dass er auf kommerzieller Ebene den Erfolg des Megahits Koe no Katachi nicht einmal annähernd wiederholen konnte. Wer jedoch eine Vorliebe für die ruhigen und lebensechten Aspekte der japanischen Erzählkunst hat—man denke an Koreeda, Takahata oder Ozu—wird sich hier womöglich wie zu Hause fühlen.
Zu guter Letzt soll auch gesagt werden, dass dieser Film durchaus als selbstständiges Werk gesehen und verstanden werden kann, auch wenn ohne Vertrautheit mit Hibike! Euphonium ein gewisses Mass an Kontext und Vielschichtigkeit verloren geht. Da die Serie jedoch auch ziemlich gelungen ist, empfehle ich, vor dem Film zuerst die ersten beiden Staffeln der Serie anzuschauen.