Weihnachtsstimmung ist ehrlich gesagt nicht wirklich mein Ding, dafür freue ich mich im Dezember jeweils immer auf die Jahresendlisten und Retrospektiven, die zu dieser Zeit aus allen Ecken spriessen. In diesem Thread könnt ihr also eure liebsten Animes, Mangas, Videospiele (oder was auch immer) des Jahres posten—vielleicht findet man so noch die eine oder andere verpasste Perle vor dem Jahresabschluss.
Von meiner Seite hier eine kurze Liste meiner Highlights von 2022, ohne Reihenfolge, wobei ich jedoch nur Erstveröffentlichungen zähle (also keine Fortsetzungen). Leider hat es kein Anime in diese Liste geschafft, auch wenn das Jahr dank einer besonders starken Herbstsaison eine positive Bilanz ziehen kann. Bezüglich Mangas war dieses Jahr die Rückkehr von Houseki no Kuni mein persönliches Highlight, was aber eine Fortsetzung ist. Vielleicht werde ich später noch eine erweiterte Liste ohne Kommentare posten, nun aber zu meinen Top 6 Premieren des Jahres:
Citizen Sleeper
Ein textreiches Cyberpunk-RPG nach dem Motto Disco Elysium trifft auf Philip K. Dick. Mit kritischem Scharfsinn und ebenso viel zwischenmenschlichem Feingefühl thematisiert das Spiel den täglichen Überlebenskampf unter der prekären Gig Economy, basierend auf den persönlichen Erfahrungen von Developer Gareth Damian Martin (wobei das wunderschöne Spritework und der stimmungsvolle Soundtrack jedoch aus externen Händen stammen). Die Geschichte handelt auf einer sich selbst überlassenen, urbanen Raumstation, welche nach dem Bankrott eines Grosskonzerns und ehemaligen Eigentümers nun von verschiedenen Fraktionen kontrolliert wird. Im Zentrum steht jedoch ein vielfältiger Mix von alltäglichen Charakteren aus verschiedensten Strängen der Arbeiterklasse, die sich am Rande des galaktischen Treibens eine lebenswerte Existenz aufbauen wollen. Im Gegensatz zu den (meist) menschlichen NPCs ist der Spielercharakter hingegen ein sogenannter "Sleeper"-Flüchtling, d.h. eine ursprünglich organische Person, dessen Bewusstsein nun in einem Androiden-Körper emuliert wird und somit privates Firmeneigentum ist. Geplante Obsolesenz, autonome Gemeinschaften, Überwachungstechnologie, Flüchtlingshilfe, institutionelle Vernachlässigung und weitere gesellschaftspolitische Themen werden hier ohne schwerfällige Moralpredigt aufgegriffen. Das auf Pen&Paper-Rollenspiele basierende Game Design ist ebenfalls exzellent gestaltet und bildet ein effektives mechanisches Bindeglied zwischen den narrativen Segmenten—wobei jedoch gegen Ende das Gameplay etwas zur Routine wird und an Anspruch verliert. Trotzdem: Bei so tollem Writing hätte ich gerne auch noch doppelt so lange auf dieser Raumstation nach interessanten Charakteren und ihren überraschend lebensnahen Geschichten gestöbert. Dank dreier kostenloser DLCs wird die Spielzeit auf immerhin gute 10+ Stunden gebracht, wobei Teil drei Anfang 2023 erscheinen soll.
Elden Ring
Zweifellos der berechenbarste Eintrag auf meiner Liste: FromSoftwares Opus magnum hat sowohl bei Kritik und Publikum bereits alle möglichen Lorbeeren geerntet; meine eigene Stimme wird die Lobeshymnen kaum prächtiger erklingen lassen. Auf jeden Fall waren meine ca. 100 Stunden, die ich in den "Lands Between" verbringen durfte, ein durchgehend atemberaubendes Erlebnis. Creative Director Hidetaka Miyazaki und Team haben sich innerhalb des letzten Jahrzehnts zu absoluten Göttern der Schöpfung virtueller Welten aufgearbeitet: In Sachen Gestaltung, Mythologie und Inszenierung sind Spiele aus dem Hause FromSoft schlicht sondergleichen. Auch ihr anspruchsvolles, Genre-definierendes Game Design hat selbst bei meinem sechsten dieser Spiele seinen Anreiz noch immer nicht verloren. Zwar muss ich sagen, dass rein auf der Ebene des Souslike-Genres für mich das erste Dark Souls trotz gewisser Unebenheiten immer noch die einzigartigste, unvergesslichste Erfahrung in diesem Bereich bleibt—und trotzdem: Wenn ich für den Rest meines Lebens nur noch Zugriff auf ein einziges FromSoftware-Spiel haben dürfte, würde ich mit Sicherheit Elden Ring wählen, denn was Umfang und Qualitätsniveau angeht, haben Miyazaki und Co. hier wirklich superlative Arbeit geleistet.
Severance
Neben Citizen Sleeper hat es mit der ersten Staffel des Psycho-Thrillers Severance eine weitere kapitalistische Dystopie auf meine Liste geschafft. Hier wird ein wirklich sehr innovatives Story-Konzept mit höchster Finesse umgesetzt: Angestellte eines geheimnisvollen Grosskonzerns untergehen einem neurologischem "Trennungs-Verfahren", welches das Bewusstsein und die Erinnerungen der Person in zwei Teile spaltet—jeweils eines für die Arbeit und eines fürs Privatleben. Die von Ben Stiller produzierte Serie kann man sich als eine düstere Version der White-Collar-Satire Office Space vorstellen, die sich irgendwo zwischen Alex Garland (Ex Machina) and Charlie Kaufman (I'm Thinking of Endings Things) bewegt. Mit viel schwarzem Humor, aber noch mehr Mut zur Aufrichtigkeit und Stellungnahme behandelt Severance Themen wie Trauer, Vereinsamung, Entfremdung, Corporate-Propaganda und die Notwendigkeit einer organisierten Arbeiterklasse. Die erste Staffel baut auf ein wirklich phänomenales Finale hin und beinhaltet einige der besten Twists der letzten Jahre; die bereits bestätigte Fortsetzung kann daher nicht früh genug kommen.
SIGNALIS
Ein phänomenal inszenierter, tiefgehender, surrealer Retro-Survival-Horror mit orwellscher Sci-Fi-Kulisse, dessen Worldbuilding einer einzigartigen, deutsch-asiatischen Historie entsprungen ist. Das Spiel bekennt sich zudem offen als Pastiche der bedeutendsten japanischen popkulturellen Werke der letzten 30 Jahre: Story und Gameplay sind stark angelehnt an Silent Hill und Resident Evil, der Schnittstil ist direkt dem Monogatari-Anime übernommen, Referenzen zu Evangelion, Nier, Ghost in the Shell und mehr gibt es zuhauf—aber auch Literatur, Europäische Malerei und klassische Musik dienen dem Spiel als bedeutende Leitmotive. Trotz dieser Fülle an Einflüssen fühlt sich das Resultat weder verworren noch verfälscht an, sondern bietet ein durchaus originelles Erlebnis, das unter die Haut geht. Bezüglich Gameplay mag das Kampfsystem etwas schwerfällig wirken (was mich aber nicht gross gestört hat), dafür sind die Puzzles umso genialer. Wer jedoch Mühe mit knappem Inventory Management hat, soll gewarnt sein: SIGNALIS ist in dieser Hinsicht äusserst kompromisslos.
Andor
The Mandalorian war zwar ganz okay, konnte mein Interesse jedoch nicht bis ans Ende der ersten Staffel halten (daher auch kein Interesse am Boba Fett Spin-Off), und die neue Obi-Wan-Miniserie sieht mir einfach zu sehr nach Fanservice und rezykliertem Star-Wars-Mythos aus. Der Obi-Wan-Trailer endet gar mit dem altbekannten Geräusch von Darth Vaders Atemmaske—ist das im Jahre 2022 wirklich noch ein überzeugendes Verkaufsargument? Cue Cassian Andor: mürrischer Protagonist des nach ihm benannten Rogue-One-Prequels, welches seinen verzwickten Weg von Gelegenheitsdieb zu Spitzen-Rebellionskämpfer schildert. Dank politischem Biss, erzählerisch-inszenatorischer Bravour, ideenreichem Worldbuilding und einer erfrischenden Gleichgültigkeit gegenüber den immergleichen Skywalker-Palpatine-Kenobi Blutlinien ist Andor somit die erste Star-Wars-Realserie, welche mich von Anfang bis Ende mitnehmen konnte. Auch erwähnt sein sollen die zwei geilsten Heist- und Gefängnis-Arcs seit Jahren—so verflechtet man packendes Storytelling mit gesellschaftskritischer Substanz.
Yunchan Lims Auftritt bei der Van Cliburn Competition 2022
Es gibt Tage, an denen ich meine, Anime sei nicht echt. Und dann gibt es Tage, an denen ich mir erneut Yunchan Lims bahnbrechende Darbietung beim Van Cliburn-Klavierwettbewerb anschaue, wobei mir sofort klar wird: Wir leben in einem Anime, und Lim ist der Protagonist. Eine absolut unreale Leistung, mit welcher der gerade mal 18-jährige (!!!) Koreaner nicht nur einen der renommiertesten Klavierwettbewerbe der Welt für sich entscheiden konnte, sondern sich gleich in die Nachbarschaft von absoluten Legenden wie Vladimir Horowitz und Martha Argerich katapultiert hat. Etwas hyperbolisch formuliert? Vielleicht. Eine über mehrere Jahrzehnte andauernde Konsistenz muss er erst noch beweisen. Aber wenn ich mir so anschaue, wie er bereits jetzt pianistische Mount Everests wie die 12 Transzendental-Etüden von Liszt oder Rachmaninows drittes Klavierkonzert nicht nur technisch virtuos meistert, sondern mit einer erstaunlich reifen Kombination von spielerischem Selbstbewusstsein und persönlicher Bescheidenheit—sein Zusammenspiel mit dem Orchester zeugt von einem wahren Teamplayer—in neue Höhen befördert, sind superlative Vergleiche eben naheliegend. Tonebase Piano hat hierzu ein ausgezeichnetes Video produziert: Is Yunchan Lim’s Rachmaninoff 3rd Concerto the greatest ever? Ich bin zwar längst kein Experte, aber als jemand, der Rach 3 schon seit einigen Jahren zu meinen Favoriten des romantischen Repertoires zählt, hat Lim meine Stimme auf jeden Fall schon für sich gewonnen.